Der Freiburger Oberstaatsanwalt Klaus Hoffmann hat fast drei Jahre die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft beraten und bei der Dokumentation von Kriegsverbrechen begleitet. Er spricht über die Schwierigkeit, sexuelle Gewalt in Konflikten zu dokumentieren, neue Möglichkeiten digitaler Verbrechensermittlung und die aktuellen Herausforderungen für die internationale Strafgerichtsbarkeit als solche.
Das Interview führte Marion Kraske.
Herr Hoffmann, Sie sind in Freiburg als Staatsanwalt tätig. Mehr als zwei Jahre lang haben Sie in der Ukraine staatliche Stellen bei der Dokumentation von Kriegsverbrechen beraten. Wie kam es dazu?
Klaus Hoffmann: Im Februar 2022 gab es Kontakte der damaligen ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft und einem US-Kollegen. Der hat dann ehemalige Kollegen kontaktiert, die er u.a. vom Jugoslawien-Tribunal in Den Haag kannte. Und so hat auch mich Anfang März 2022 sein Anruf erreicht.
Wen haben Sie genau beraten?
Hauptziel war es, die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft in Kiew zu beraten und bei der Fortbildung zu helfen. Einen eigenen Ermittlungsauftrag hatten wir nicht. Es ist wichtig, das zu unterscheiden. Dabei haben wir nicht nur mit dem Kollegen von der Generalstaatsanwaltschaft gearbeitet, sondern auch mit Büros vor Ort. Ich war zum Beispiel ein paar Mal in Dnipro im Osten der Ukraine, wo wir mit regionalen Staatsanwaltschaften gearbeitet haben.
Was ist bei der Dokumentation von Verbrechen im Krieg bedeutsam?
Vor allem geht es darum, dass man relativ zeitnah die Möglichkeit hat, die Verbrechen zu dokumentieren. Das ist in kriegerischen Auseinandersetzungen naturgemäß immer ein Problem. Das kennen wir etwa aus anderen Konflikten, z.B. aus Kroatien und Bosnien, wo dann sehr spät der Zugang zu den Tatorten möglich war. In der Ukraine ist es anders: Wenn man z.B. die Region rundum Kiew nimmt: Dort waren russische Truppen im Prinzip nur 4-5 Wochen, bevor sie zurückgeschlagen wurden. Dort hat man schnell Zugang zu den Tatorten erlangt. Da die russischen Einheiten Hals über Kopf fliehen mussten, haben sie sehr viel Material hinterlassen. Es ist erstaunlich, was man in den Stellungen, wo sie übernachtet haben, gefunden hat. Tagebücher, militärische Dokumente, Ausweise – all das ist Material, mit dem man gut arbeiten kann. Im Osten haben die Russen viel stärker aufgeräumt: da wurden Leichen entsorgt oder verbrannt – die Dokumentation ist dann erheblich schwieriger. Als Ermittler ist man dann auf Flüchtlinge angewiesen, die Aussagen machen können oder Material mitbringen.
Sie haben auch für das Tribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in den Haag gearbeitet, der unter anderem für den Bosnienkrieg von 1992-95 zuständig war. Was ist heute anders als etwa noch im Bosnienkrieg mit seinen unzähligen Kriegsverbrechen?
Einige Verbrechen wurden tatsächlich live auf Video aufgenommen.
Öffentliche Quellen gibt es heutzutage deutlich mehr als während des Bosnienkrieges. Durch die Medien, durch Social Media, Funkverbindungen, Telefonverbindungen, Geodaten, Satellitenaufnahmen oder auch Erkenntnisse der militärischen Einheiten gelangen wir an große Datenberge, was für Ermittler immer zwei Seiten hat: Zum einen ist es schön, da man die Taten besser nachweisen kann. Zum anderen wird man diese Menge ohne entsprechende Software gar nicht mehr auswerten können. Ein Beamter allein kann diese Menge nicht bewältigen. Was die Aggression Russlands in der Ukraine so besonders macht: Einige Verbrechen wurden tatsächlich live auf Video aufgenommen, durch Kameras an Supermärkten, Tankstellen oder auch durch Aufklärungsflüge. Für Ermittler ist das schon ziemlich „gutes“ Material.
Was heißt das konkret?
Das Material erlaubt uns Ermittlern mitunter auch, individuelle Personen zu identifizieren, die zum Beispiel auf der Autobahn Zivilisten erschossen haben. Die haben sich dann aus den Autos begeben, und man sieht, wie sie in dieser Situation getötet werden. Und diese Aufnahmen sind so gestochen scharf, dass man die Täter, die Kommandeure identifizieren kann. Das funktioniert z.B., indem man vorhandene Fotos / Videoaufnahmen mit Fotos aus sozialen Medien abgleicht und evtl. auch eine automatische Gesichtserkennung nutzt.
Hat sich der russische Angriffskrieg hinsichtlich der Vorgehensweise geändert? Trügt der Eindruck, dass die russische Führung keinen Unterschied mehr macht zwischen zivilen und militärischen Zielen?
Es wird massiv zivile Infrastruktur angegriffen.
Tatsächlich hatte die russische Führung zu Beginn die Vorstellung, dass sie innerhalb von drei Tagen Kiew einnehmen und die ukrainische Führung austauschen und dass man dann alles schnell erledigt hat. Als das nicht eintrat, hat man eine neue Strategie benötigt. Seit dem 10. Oktober 2022 wird massiv zivile Infrastruktur angegriffen - und zwar von allen drei Streitkräften, also Land, Luftwaffe und Marine. Man nimmt seitdem zudem die ukrainische Infrastruktur ins Visier, um die Bevölkerung zu demoralisieren und zur Aufgabe zu zwingen. Es ist relativ klar, dass das keine zulässigen Kriegsziele sind; das kann man in einem späteren Prozess entsprechend verwenden. Auch deutet die koordinierte Intensivierung der Angriffe durch alle Streitkräfte ab einem bestimmten Tag auf einen Befehl von ganz oben hin.
Was waren typische Beratungs-Inhalte für die ukrainischen Ermittler?
Wir haben den Kollegen beigebracht, sehr genau hinzuschauen. Ist ein bestimmtes Objekt zivil oder ist es ein sogenannter „Dual Use“ - hat das Gebäude also auch eine militärische Bedeutung? Beispiel wäre ein verlassenes Schulgebäude in Frontnähe, wo sich über Nacht die ukrainischen Soldaten aufhalten, weil sie nicht auf dem freien Feld übernachten wollen. Wenn das Gebäude dann angegriffen wird, wenn es der Unterbringung der Armee dient, dann ist es ein militärisches Ziel. Da muss sauber unterschieden werden.
Zudem haben wir den Kollegen – angesichts begrenzter Ressourcen - geraten: Ihr habt mehr als 150.000 offene Ermittlungsverfahren wegen Kriegsverbrechen. Konzentriert eure Ressourcen auf jene Fälle, die wirklich klar sind.
Im Frühling 2022 wurden Berichte von Massakern in Butscha veröffentlicht, man sah Tote Zivilisten auf den Straßen liegen. Wie bewerten Sie diese Aufnahmen? Wie gut sind die Verbrechen dokumentiert?
Über eine Kombination aus Handy- und Videoaufnahmen, Telefondaten und öffentliche Quellen, aber auch über Zeugenaussagen hat man ein ziemlich gutes Bild, was in Butscha geschehen ist. Ich habe im Januar 2024 zudem eine Opferfamilie besuchen können. Der Vater war mit dem Sohn auf dem Fahrrad unterwegs, um Lebensmittel zu holen. Sie wurden von zwei russischen Soldaten gestoppt. Es gibt einen kurzen Wortwechsel und plötzlich wird der Vater auf dem Fahrrad erschossen. Der Sohn geht zu Boden, auf ihn wird ebenfalls geschossen, er stellt sich jedoch tot und kann später fliehen. Die Täter konnte man identifizieren. Einige dieser Fälle sind bereits vor Gericht, wenn auch in Abwesenheit der Täter.
Immer wieder liest man von Folterungen und gezielten Vergewaltigung in den besetzten Gebieten. Welche Fakten sind hierzu bekannt?
Wir haben daran mitgewirkt, dass eine eigene Abteilung für Sexualverbrechen gegründet wurde. Da ist eine gewisse Expertise erforderlich, auch was den Umgang mit den Opfern anbelangt. Da ist die ukrainische Staatsanwaltschaft mittlerweile gut aufgestellt. Es waren jedoch bis letztes Jahr nur einige wenige hundert Fälle.
Aus Scham behalten viele Opfer die Taten für sich - im ukrainischen Gesellschaftskontext ist das sehr stark ausgeprägt. Daher gibt es interessante Ansätze mit Opfern, die bereit sind, über die Verbrechen zu reden. Ich habe einen jungen Mann getroffen, der queer war und Opfer sexualisierter Gewalt wurde. Er hat sexuelle Folter und den Missbrauch beim Verlassen der besetzten Gebiete sehr eindringlich geschildert, auch öffentlich. Seine Botschaft war: „Das ist nicht meine Schuld. Ich bin Opfer, die Verbrechen sind kein Einzelfall und ich fordere andere Opfer auf, das Erlebte ebenfalls öffentlich zu machen.“ Wir können nicht genau sagen, wie viele Opfer es gibt, aber wir haben aus verschiedenen besetzten Gebieten von Vergewaltigungen und anderen sexualisierten Verbrechen gehört.
Vergewaltigungen vor allem von Frauen und Mädchen sind in Konflikten eine verbreitete Kriegswaffe. Im Bosnienkrieg wurden Angaben der UN zufolge bis zu 50.000 Frauen (zumeist Musliminnen) vergewaltigt. Von den Haager Richtern wurden die systematischen Vergewaltigungen in der Stadt Foča erstmals als Kriegsverbrechen eingestuft - ein Novum in der Rechtsprechung. Inwiefern sind diese historischen Errungenschaften in der Strafverfolgung heute hilfreich für den Umgang mit sexualisierten Verbrechen in der Ukraine?
Vergewaltigung, sexueller Missbrauch der ukrainischen Bevölkerung ist sicher geduldet, vielleicht auch erwünscht. Ob dies auch systematisch organisiert wurde, müssen die weiteren Ermittlungen zeigen. Dennoch erkennt man ein Muster: Das sehen wir auch daran, dass überall, wo Zivilisten interniert werden, immer wieder dasselbe berichtet wird. Auch diejenigen, die aus Russland im Rahmen des Gefangenenaustausches freikamen, schilderten Folter und sexuelle Gewalt. Tatsächlich sind diese Verbrechen als Teil der russischen Politik zu werten, mit dem Ziel, eine Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung zu erreichen - durch Vertreibungen, Tötungen, aber auch durch diese sexuellen Verbrechen. Wie schon im Bosnienkrieg, als die serbischen Täter sagten: „Du wirst keine bosnischen Kinder mehr kriegen, ich mach dir ein serbisches Baby!“ Dasselbe passiert nun ebenfalls in der Ukraine mit ukrainischen Opfern.
Tatsächlich sind diese Verbrechen als Teil der russischen Politik zu werten, mit dem Ziel, eine Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung zu erreichen
Was macht die Dokumentation von Sexualtaten so herausfordernd?
Wir haben gerade bei der internationalen Strafverfolgung das Thema Ressourcen- und Zeitknappheit bei den ermittelnden Stellen. Da sexuelle Gewalt zumeist in geschlossenen Räumen stattfindet, sind bei Vergewaltigungen die Zeugenaussagen der Opfer meist das einzige Beweismittel. Es sei denn, ich habe tatsächlich noch jemanden, der bei den Taten zugucken muss – auch das kommt in Konflikten vor. Die Beweisermittlung ist daher deutlich schwieriger, als wenn es zum Beispiel um Tötungen wie bei der Familie in Butscha geht, wo man auf eine Reihe von Videoaufnahmen, Handydaten etc. zurückgreifen kann. Insofern waren die Urteile vor dem Jugoslawientribunal zu den Vergewaltigungen und Versklavungen sehr bewegend. Dass in diesem schwierigen Bereich sexuelle Verbrechen als Kriegsverbrechen kategorisiert wurden, war ein Meilenstein in der internationalen Rechtsprechung.
In der Ukraine wurden Tausende von Kindern nach Russland deportiert. Terre des Hommes spricht von ca. 20.000 Kindern. Was weiß man über deren Schicksal?
Die ukrainischen Kollegen haben es mittlerweile geschafft, einige 100 Kinder von Russland wieder in die Ukraine zurückzuführen. Die machen wichtige Angaben in ihren Zeugensagen, vor allem die Teenager. Die Taten selbst werden von russischer Seite auch gar nicht bestritten, sie reden ganz offen drüber. Man stellt das Ganze jedoch in einen anderen Kontext. So gehe es - angeblich - darum, die Kinder vor der Front in Sicherheit zu bringen und vor Kriegsgewalt zu schützen. Berichten zufolge werden diese Kinder jedoch in Russland in Camps gesteckt, zum Teil bis nach Sibirien verbracht oder zur Adoption freigegeben, oftmals erhalten sie neue Identitäten. Es gibt zudem keine Versuche, mit den Eltern oder Erziehungsberechtigten Kontakt aufzunehmen. Wegen dieser Deportationen sind vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag internationale Haftbefehle gegen Putin und seine Kinderrechtsbeauftrage auf den Weg gebracht worden.
Unlängst hat die UN Russland vorgeworfen, die Bevölkerung in den besetzten Gebieten der Ukraine gezielt mit Drohnen zu terrorisieren. Gibt es Anzeichen für einen Völkermord?
Bei der Frage, ob die Taten den Vorsatz des Völkermordes untermauern, wäre ich sehr vorsichtig, Daten müssen erst einmal gesammelt werden, später muss man sie dann auswerten. Das ist ein kompliziertes Feld. Für den Völkermord muss eine geschützte Gruppe gezielt angegriffen werden - und nur sie. In der Ukraine ist es so, dass pauschal Zivilisten angegriffen werden, also unabhängig davon, ob russische Staatsbürger, ausländische Staatsbürger, ukrainische Staatsbürger getroffen werden. Daher muss man die Erwartungen der Öffentlichkeit hinsichtlich eines vermeintlichen Völkermordes eher dämpfen. Die Opfer erwarten später entsprechende Urteile. Damit aber werden die Urteile zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit etc. entwertet.
In Deutschland gibt es Stimmen, die trotz der Vielzahl an Verbrechen fordern, die Ukraine möge die besetzen Gebiete abtreten, um endlich Frieden mit Moskau zu schließen. Wie bewerten Sie diese Forderungen?
Schauen wir mal auf meine badische Heimat. Wenn die jetzt unter französischer Kontrolle wäre, würde sich im Alltagsleben nicht so viel ändern. Wenn wir uns aber beispielsweise die elf Jahre russische Besatzung auf der Krim anschauen, sehen wir, dass es dort kein freies Leben gibt. Menschen werden ermordet, gefoltert, vertrieben, wenn sie sich nicht komplett dem neuen System unterordnen. Seit 2014 findet eine systematische Umerziehung statt, etwa durch die Militarisierung von Kindern und Jugendlichen. Dort wird ihnen eingeimpft: Es gibt keine Ukraine, keine ukrainische Sprache. Die Kinder werden schon früh an die Waffe herangeführt und zum Schießtraining geladen und landen dann irgendwann in russischen Armeeeinheiten, kämpfen gegen die Ukraine.
Menschen werden ermordet, gefoltert, vertrieben, wenn sie sich nicht komplett dem neuen System unterordnen.
Man muss somit klar unterscheiden: Ein gerechter Friede ist nicht das Ende von Waffengewalt, sondern, wenn ein Leben in Freiheit und mit gewissen Rechten für alle möglich ist. Das aber ist in den von Russland eroberten Gebieten nicht gewährleistet. Zudem muss man festhalten, dass die derzeitige Bevölkerung auf der Krim nicht mehr die von 2014 - also vor der Invasion - ist. Für die Bewertung einer möglichen Volksabstimmung sind auch solche Fakten relevant.
In Ruanda und in Bosnien haben westliche Akteure lange gezögert, die Völkermorde nicht verhindert. Die Haager Urteile gegen den Verantwortlichen des Srebrenica-Genozids, Ex-General Ratko Mladic etwa, oder den langjährigen bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic belegen die ethnische Säuberungspolitik, die zum Ziel hatte, ein Groß-Serbien zu schaffen. Zudem gab es Urteile gegen die Verantwortlichen des groß-kroatischen Parastaates „Herzeg-Bosna“, gegen Ex-General Praljak und andere, die für die Sprengung der Brücke in Mostar und zahlreiche KZ-ähnliche Lager in der Herzegowina verantwortlich waren. 1998 hat zudem ein internationales Gericht erstmals ein Urteil wegen Völkermordes gesprochen. Damals wurde vor dem Ruanda-Tribunal der Vereinten Nationen im tansanischen Arusha der einstige Bürgermeister der Stadt Taba, Jean-Paul Akayesu, des Völkermordes für schuldig befunden. All diese Richtersprüche belegen die Verachtung, den Menschenhass dieser politischen und militärischen Akteure.
Warum tun sich westliche Akteure dennoch so schwer, die entsprechenden Lehren für den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu ziehen, um den inhumanen und auf Vernichtung ausgelegten Politiken etwas entgegen zu setzen?
Um diese Frage zu beantworten, spreche ich weniger als Ermittler denn als politisch denkender Mensch und gebe die Frage weiter an unseren Kanzler und die Bundesregierung. Es ist ja offensichtlich was passiert und dass sich Putin von den derzeitigen Bemühungen nicht beeindrucken lässt. Das Problem ist doch, dass man die eigene Bevölkerung - in dem Fall die deutsche, die englische oder französische - mitnehmen und überzeugen muss. Man muss klar kommunizieren, dass sich ein robustes Eingreifen lohnt und dass dazu eigene Opfer notwendig sind. Die Sanktionen bislang kommen eher scheibchenweise und verzögert - das hat keine Wirkung. Wenn man früh voll reingegangen wäre, hätte das sicherlich dazu geführt, dass die Energiepreise in Deutschland gestiegen wären, dass wir bestimmte Einschränkungen erlebt hätten. Das ist für Politiker ein gewisses Risiko, das verstehe ich.
Dennoch: Man hätte das Vorgehen anders kommunizieren müssen und die Notwendigkeit des Handelns unterstreichen müssen, etwa, dass ein frühes Eingreifen billiger wäre als etwa fünf Jahre Krieg, eine Vielzahl von Investitionen, die nun nötig sind, zudem die Kosten für eine Million Flüchtlinge, die wir beherbergen müssen. Es gibt eine große Angst, das ist offenbar der Grund, warum Kanzler Merz – entgegen seiner Ankündigung vor der Wahl - nun die angekündigte Taurus-Lieferung nicht realisiert. Stattdessen werden die Finanzmittel für die militärische Unterstützung sogar gekürzt.
Sie kennen als Ermittler die Verläufe von Konflikten. Wo sehen Sie aktuell Gefahren?
Wir müssen der Bevölkerung erklären, dass Putins Heißhunger mit dem Angriff auf die Ukraine nicht gestillt ist. Es besteht die Gefahr, dass er in ein bis zwei Jahren die baltischen Staaten angreift. Dort gibt es mitunter eine große russische Minderheit, die er als Grund anführen könnte. Ob die NATO dann tatsächlich in den Konflikt eintritt, ist fraglich – und das weiß Putin. Wir müssen als Europäer schauen, ob und wie wir dem etwas entgegensetzen. Natürlich ist es bequemer zu sagen, Russland ist weit weg und der Konflikt wird uns schon nicht treffen. Angesichts der Bedrohungslage müssen wir uns jedoch anders aufstellen. Wir haben jetzt schon mehr als eine Million Flüchtlinge und die kommen – anders als in anderen Ländern – nur langsam in Arbeit. Dieses Geld wäre anderswo besser eingesetzt. Viele wollen nach Hause. Je schneller wir also diesen Krieg beenden, umso schneller können wir auch Kosten einsparen. Zudem: Wenn wir jetzt nicht aufpassen, steht vielleicht eine noch größere Flüchtlingswelle an: Die Menschen in der Ukraine schauen sehr genau auf die Positionierung Europas. Wenn Sie das Gefühl haben, Europa gibt sie auf, packen sie ihre Familien und werden die Ukraine verlassen. Das ist die Kehrseite, die man hier nicht sieht.
Wie realistisch ist es, dass Putin wegen der zahlreichen Verbrechen in der Ukraine tatsächlich belangt wird? Wird es ein eigenes Russland-Tribunal geben - nach dem Vorbild des Ruanda- oder Jugoslawien-Tribunals?
Wir haben den Strafgerichtshof in Den Haag, der ist zuständig und hat auch die Haftbefehle gegen Putin und seine Kinderbeauftragte sowie einige Generäle erlassen. Die Dokumente liegen vor, die Beweislage ist gut. Wenn Putin aber Russland nicht verlässt, wird es keinen Prozess geben. Die sehr unwahrscheinliche Variante derzeit wäre ein Regimewechsel. Das ist langfristig ein mögliches Szenario, vielleicht auch erst in zehn Jahren. Das Assad-Regime in Syrien ist zuletzt überraschend gestürzt worden; in Serbien hatten wir, wenn auch spät, ebenfalls einen Regimechange - in der Folge wurde Ex-Machthaber Slobodan Milosevic nach Den Haag überstellt.
Wir müssen die Verbrechen gut dokumentieren und zu Papier bringen, zudem müssen wir den Opfern eine Stimme geben.
Auch wenn das alles sehr unterschiedliche Akteure sind, so haben wir doch zwei Aspekte, die wichtig sind: Wir müssen die Verbrechen gut dokumentieren und zu Papier bringen, zudem müssen wir den Opfern eine Stimme geben, verbunden mit der Hoffnung, dass es doch irgendwann gelingt, wenn auch nicht Putin, so doch einige Minister oder Generäle vor Gericht zu stellen. Es ist denkbar, dass einige der Akteure irgendwann das Land verlassen - dann gäbe es Möglichkeiten einer Strafverfolgung. Viele der Top-Leute rund um Putin leben nicht gerne ganzjährig in Russland, haben ihre Jachten und Immobilien in Europa. Der kroatische Ex-General Gotovina beispielsweise wurde damals bei einem Urlaub auf Teneriffa verhaftet, weil er sich in Sicherheit wog.
In der Ukraine gibt es ja bereits einige Prozesse gegen Täter in Abwesenheit. Dieses Prinzip gilt aber nicht für Fälle vor dem Strafgerichtshof...
In der Tat kann man dort keine Fälle in Abwesenheit führen. Der Strafgerichtshof ist zudem aus formalen Gründen nicht zuständig für das Verbrechen der Aggression. Was jedoch parallel läuft, ist der Aufbau eines Sondertribunals für die Aggression gegen die Ukraine, also für den Angriffskrieg an sich. Da laufen die Planungen seit 2022. Das Sonder-Tribunal könnte gegen hochrangige Amtsträger prozessieren, etwa gegen Wladimir Putin, Außenminister Lawrow oder andere maßgebliche Vertreter des Kreml und des russischen Militärs. Im Falle der Ukraine ist der Strafgerichtshof für die Kernverbrechen (Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord) zuständig, weil die Ukraine sich schon früh dem Römischen Statut, einem völkerrechtlichen Vertrag, unterworfen hat. Für die Aggression haben die Mitgliedstaaten jedoch höhere Hürden aufgebaut, so dass der Chefankläger des Strafgerichtshofes dazu nicht ermitteln kann.
Das Sonder-Tribunal könnte gegen hochrangige Amtsträger prozessieren, etwa gegen Wladimir Putin.
Das wird sich mit dem Sondertribunal ändern. Im Sommer gab es dazu eine Einigung zwischen Europarat und der Ukraine, Grundkonzepte für das Sondertribunal wurden entwickelt. Es wird einen starken Kompromiss geben: Einerseits werden Abwesenheitsverfahren wohl möglich sein, andererseits hat man Amtsträgern der jetzigen Führung noch Immunität während ihrer Amtszeit zugesprochen, so dass man Putin, solange er in Amt und Würden ist, auch dort erst einmal nicht anklagen kann. Ziel ist es aber, den Angriffskrieg als solchen zum Gegenstand der Strafverfolgung zu machen.
Putin hat nun zusammen mit Trump einen sogenannten „Friedensplan“ für die Ukraine ausgearbeitet – de facto eine Kapitulationsforderung. Kritiker sprechen von einem Diktat, ohne Beteiligung Kiews und der EU. Lässt sich so Recht wiederherstellen?
Nein, so lässt sich weder Gerechtigkeit noch ein dauerhafter, echter Frieden schaffen. Dieser Pakt zwischen dem Diktator Putin und dem sogenannten Dealmaker Trump ist absolut absurd; kein Land würde so einen Pakt für sich selbst akzeptieren. Jeder einzelne Punkt stammt aus der Feder Putins und ist eine Zumutung. Das Ganze erinnert zudem stark an die 90er Jahre, als Europa zuschaute, wie Bosnien und Herzegowina erst angegriffen und dann aufgeteilt wurde. Es wurde ein Konstrukt geschaffen, das nicht funktioniert und letztlich die serbische Aggression belohnt hat.
Derzeit existieren sowohl gegen Putin als auch gegen Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu internationale Haftbefehle wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen. Bei Netanjahu wird mitunter eine Verhaftung, etwa durch Bundeskanzler Merz, ausgeschlossen. Misst die Internationale Gemeinschaft hinsichtlich der Täter mit zweierlei Maß?
Grundsätzlich ist es ermutigend, dass es diese Ermittlungen und diese Haftbefehle gibt. Das belegt, dass man nicht mit zweierlei Maß misst, dass Strafverfolgung angestrebt wird, dass man nicht nur nach Asien und Afrika schaut und die kleinen Staaten verfolgt. Ein starkes Signal. Umso bedauerlicher finde ich die Äußerung von Bundeskanzler Merz zu Netanjahu, dass man Wege finden würde, den Haftbefehl zu umgehen, sollte Netanjahu nach Deutschland kommen. Damit wird das internationale Völkerstrafrecht unterminiert.
Wenn solche Aussagen von Viktor Orban in Ungarn geäußert werden, hat das für mich weniger Gewicht, als wenn Deutschland so etwas äußert. Immerhin hat Deutschland bei der Entwicklung des Völkerstrafrechts, beim Rom-Statut, eine maßgebliche Rolle gespielt. Wenn so ein Land verkündet, wir fühlen uns nicht verpflichtet, obwohl rein rechtlich die Pflicht besteht, ist das nicht akzeptabel. Das Entsetzen unter Völkerstrafrechtlern war entsprechend groß.
Global betrachtet kann man den Eindruck gewinnen, dass das Internationale Völkerrecht nicht mehr von allen Akteuren (auch im Westen) als normative, unverhandelbare Instanz angesehen wird, mitunter werden Partikularinteressen dem Völkerrecht übergeordnet. Was sind die Gefahren für die internationale Strafverfolgung?
Entweder stehen wir zum internationalen Völkerstrafrecht oder wir geben es auf.
In der Tat stehen wir an einem Scheideweg. Es wäre wichtig, dass wir diese Fälle - gegen Russlands und Israels Führung - in den nächsten Jahren zu einem Erfolg führen. Das wäre eine starke und wichtige Botschaft und würde die Völkerstrafgerichtsbarkeit fördern. Aber ich sehe auch die Gefahr, dass das Projekt an sich scheitern kann, wenn dem Recht keine Geltung verschafft wird; dann hat der Strafgerichtshof eine sehr düstere Zukunft vor sich. Dann verlassen die Staaten diesen Bereich, in dem seit den Verfahren vor den Internationalen Tribunalen in Nürnberg und Tokio ein grundsätzlicher Konsens in der Weltgemeinschaft bestand, dass schwerste Völkerstraftaten verfolgt werden müssen, unabhängig von der Amtsstellung der Täter.
Bislang wurden afrikanische oder asiatische Täter verfolgt - nun aber sind das größere Baustellen. Und da müssen wir klare Kante zeigen: Entweder stehen wir zum internationalen Völkerstrafrecht oder wir geben es auf. Wobei man auch nicht vergessen darf, dass das internationale Recht immer unter Beschuss war: Das Jugoslawien-Tribunal war auch nicht unumstritten. Von russischer Seite etwa gab es den Versuch, Milosevic rauszuholen und nach Russland zu holen.
20 Jahre nach den Kriegsverbrechen in Darfur im Sudan wurde Anfang November einer der ehemaligen Milizenführer vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in 31 Fällen, darunter Mord, Vergewaltigung und Folter für schuldig befunden. Der Angeklagte hatte sich selber gestellt. In diesem Falle sind sich alle einig. Wenn es um andere staatliche Akteure geht, ist, wie Sie gerade ausgeführt haben, der Fall dann nicht mehr so ganz klar. Ist somit die internationale Strafgerichtsbarkeit genau dort am stärksten, wo die Akteure einen eher geringeren Widerstand zeigen oder die Lobbymaschinerie nicht ganz so stark ist?
Das muss man realistisch so sehen: Es gibt Mitglieder der UN, die nicht so agieren, wie es in der UN-Charta steht. Kompromisse müssen gemacht werden. Trotzdem glaube ich, dass wir mit dem Strafgerichtshof und anderen Tribunalen weit gekommen sind, dass gewisse Rechtsstandards gesetzt sind. Die Diskussion über Kriegsverbrechen und Völkermord haben ein anderes Niveau als noch vor einigen Jahren. Und wir sollten auch nicht vergessen: Es gibt nationale Justiz in Europa, Lateinamerika, USA und in anderen Teilen der Welt, in denen Kriegsverbrechen aufgearbeitet und verfolgt werden, alleine in Deutschland bislang etwa 50 Urteile wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das sind Meilensteine - und die lassen sich nicht durch Äußerungen wie die von Herrn Merz oder anderen Akteuren einfach so wegwischen.